Der Walzer „Geschichten aus dem Wienerwald“ von Johann Strauss (Sohn) wird in der Regel gründlich missverstanden und missdeutet. Das möglicherweise publikumswirksamste, gewiss aber dümmste Klischee hatte die Filmindustrie anzubieten: der junge „Schani“ prominiert mit der noch jüngeren „Jetty“ eng umschlungen auf den Höhen des Wienerwaldes, und die Vöglein zwitschern ihm die Walzerweisen zu! Johann Strauss (Sohn) war immerhin schon 43 Jahre alt, als er den Walzer von den „Geschichten aus dem Wienerwald“ zum ersten Mal aufspielt. Sein Gattin Jetty aber hätte – sie hat sich gehütet!-ihren 50. Geburtstag feiern können. Und auf den Höhen des Wienerwaldes ist Johann Strauss (Sohn) mit Sicherheit niemals spazieren gegangen. Er war der Stadtmensch par excellence, der sich am wohlsten in seinen eigenen vier Wänden fühlte, wie sein zum „Cafe Strauss“ ausgestattetes Wohnzimmer in seinem Palais in der Igelgasse beweist. Wenn er wirklich einmal gezwungen war, auf der Strecke der Kaiserin-Elisabeth-Westbahn den Wienerwald in Richtung St. Pölten zu durchfahren, dann fürchtete er sich vor der Steigung und den „Abgründen“ auf dem Weg zu den erst recht furchterregenden Tunnels so sehr, dass er die Vorhänge im Abteil zuzog, ja, er soll sich gelegentlich sogar auf den Boden gesetzt haben. Dem Walzer „Geschichten aus dem Wienerwald“ liegt, wie dem Walzer „Dorfschwalben aus Österreich“ seines Bruders Josef, ein literarisches Programm zugrunde. Er ist überdies ein tief berührender Ausdruck der Heimatliebe, die in Johann Strauss (Sohn) aufgeflammt war, als die Donaumonarchie Österreich im Jahre 1866 im Krieg gegen Preußen ihren Rang als führende Großmacht verloren hatte. Der Walzer „An der schönen blauen Donau“, op. 314, kann als erste Reaktion auf die Niederlage auf den böhmischen Schlachtfeldern gelten, der Walzer „Geschichten aus dem Wienerwald“ bietet dazu eine Erweiterung und Ergänzung. Versteht man statt „Geschichten“ „Melodien“, dann ist der Inhalt dieses Walzers auch schon erklärt. Die Menschen aus den kleinen Siedlungen rings um die Metropole werden durch Zitate ihrer Musik beschworen. Johann Strauss (Sohn) hatte Zitherspieler mehrmals bei seinen Konzerten in Wien und in Russland als Solist verwendet. Nun holt er einen dieser volkstümlichen Musiker aus dem Umland Wiens in die Mitte seines großen Orchesters. Während der Introduktion soll die Zither auf die enge Bindung der wienerischen Musik mit den Tanzweisen und Liedern aus Österreich unter und ober der Enns und weiter aus der Steiermark verweisen. Im Ausklang der weitgespannten Tondichtung „Geschichten aus dem Wienerwald“ kommt Johann Strauss (Sohn) noch einmal auf diesen Hinweis zurück, um ihn zu unterstreichen. Und der herrliche Geigenwalzer, den er aus den heimischen Nationaltänzen entwickelt, gleitet immer wieder in die Sphäre der Ländler, der Walzer im Ländlerstil, zurück, wie sein Vater sie in Ungers Casino vor der Hernalser Linie aufgespielt und der Sohn sie von ihm übernommen hatte. Zu den „Geschichten aus dem Wienerwald“ kann man gewiss tanzen, aber sie sind kein Tanzwalzer. Zum ersten Mal erklangen sie bei einem Konzert im k.k. Volksgarten am 19. Juni 1868 und wurden einige Tage später bei einer Liedertafel des Wiener Männergesangs-Vereins in der „Neuen Welt“ in Hietzing wiederholt. Beide Male griff Johann Strauss (Sohn) selbst zur Geige, um das Werk dem begeisterten Publikum vorzustellen. Beim Konzert im k.k. Volksgarten fand der Walzer seinen Platz neben der damals neuen Musik von Richard Wagners Oper Die Meistersinger von Nürnberg, die 1868 in Wien weder im k.k. Hof-Operntheater noch im Musikverein zu hören war, sondern eben nur in den Strauss-Konzerten. Das Werk Richard Wagners bot wohl auch die richtigen Dimensionen für die „Geschichten aus dem Wienerwald“. Den besonderen Rang des großen, weitausholenden Konzertwalzers machen die Apotheose der Nationalmusik aus dem Umland der Kaiserstadt in Verbindung mit dem Wiener Tanz, dem Walzer, und die Fülle begnadeter Einfälle, die sich hier aneinanderreihen, aus. Auf dem Titelblatt der Erstausgabe der „Geschichten aus dem Wienerwald“ findet sich die Widmung: „Seiner Durchlaucht Herrn Fürsten Constantin zu Hohenlohe-Schillingsfürst.“ Das Werk war also dem damaligen Obersthofmeister am Wiener Kaiserhof zugeeignet, der im Palais Augarten auf einer Donauinsel residierte. Es wäre denkbar, dass Johann Strauss (Sohn) seinen Walzer in einer Voraufführung den Gästen des Prinzen und seiner kunstsinnigen Gattin zu Gehör gebracht hat, denn die Prinzessin, die Tochter der langjährigen Lebensgefährtin des Klaviervirtuosen und Komponisten Franz Liszt, Fürstin Caroline zu Sayn-Wittgenstein, hob in ihrem Schreiben an Johann Strauss hervor, dass ihr „die Aufführung ihres schönen Walzers“ so große Freude verschafft habe, dass sie dem Komponisten ein Andenken überreichen ließ. Aber vielleicht hat die Prinzessin den Walzer auch bei seiner Uraufführung im k.k. Volksgarten gehört, denn dieser gehörte ja zum Hofareal und stand ebenfalls unter der Aufsicht ihres Gatten. Der Walzer „Geschichten aus dem Wienerwald“ wurde sogleich als eines der Meisterwerke von Johann Strauss erkannt und anerkannt. Text: Prof. Franz Mailer
Geschichten aus dem Wienerwald / Walzer, op 325 © by WJSO-Archive
Sonntag, 05. Jänner 202511.00 Uhr Tokio ⁄ Opera City (東京オペラシティタワー)
Konzert in Tokio
Johannes Wildner Dirigent
Programm Johann Strauss (Sohn) : Ouverture zu «Die Fledermaus» Johann Strauss (Sohn) : Leichtes Blut / Polka schnell op. 319 Johann Strauss (Sohn) : Demolirer-Polka / Polka française op. 269 Johann Strauss (Sohn) : Accellerationen / Walzer op. 234 Johann Strauss (Sohn) : Annen-Polka op. 117 Johann Strauss (Sohn) : Geschichten aus dem Wienerwald / Walzer op. 325 Pause Johann Strauss (Sohn) : Ouvertüre zu «Eine Nacht in Venedig» Johann Strauss (Sohn) : Tik-Tak / Polka schnell op. 365 Johann Strauss (Sohn) : Kaiser-Walzer op. 437 Johann Strauss (Sohn) : Csárdás aus der Oper «Ritter Pásmán» op. 441 Johann Strauss (Sohn) : Im Krapfenwald´l / Polka française op. 336 Johann Strauss (Sohn) : An der schönen blauen Donau / Walzer op. 314
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